Greifswald

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„Offenheit und Präsenz: Das ist unser Schutz vor antisemitischen Angriffen!“ – Interview mit der Gründerin der liberaleren jüdischen Gemeinde in Hameln

Heute stellen wir Euch Rachel Dohme vor. Sie stammt aus den USA, kam in den 80er Jahren nach Deutschland und ist Gründerin der liberalen jüdischen Gemeinde in Hameln. Sie ist Pädagogin und unterrichtet an zahlreichen Schulen über jüdische Religion, Geschichte und Traditionen. Das Interview wurde am 20. Mai durchgeführt.

Aleksandra Brandt: Erzählen Sie bitte, wie ist die liberale Gemeinde in Hameln entstanden?

Ich habe die Gemeinde 1997 zusammen mit Polina Pelts gegründet. Als ich erfahren habe, dass sich in einem Nachbarsdorf ein Übergangsheim befindet, habe ich alle meine drei Kinder ins Auto gepackt und bin dahingefahren, um endlich mit anderen Juden zusammen zu sein (lacht). Ich war natürlich naiv, da die alle aus der ehemaligen Sowjetunion stammten und vorwiegend Russisch sprachen, nur im Pass stand „Jüdisch“, weil sie damals so einen Stempel als Nationalität bekommen haben. Die meisten Menschen im Heim haben das Judentum nicht praktiziert, vielleicht nur ihre Großeltern… Ich habe da Polina Pelts getroffen. Sie hat so wie ich Deutsch gelernt. Ich habe angefangen im Heim zu unterrichten, über das Judentum zu erzählen und das war der Anfang. Wir haben zusammen ganz viele Projekte wie Kleidungs- oder Fahrradprojekte gemacht. Wir haben auch das Projekt „Familie zu Familie“ organisiert: Einmal im Monat haben die deutschen Familien die Familien aus dem Übergangsheim besucht. Das hat viel bewirkt und hat geholfen, sich zu integrieren. Manche Freundschaften existieren bis heute.

Wie zeigt sich im Alltag die Vielfalt des Judentums?

Ja, viele denken, dass Juden nur die orthodoxen Männer mit einem Hut und im schwarzen Mantel sind (lacht).

Und warum ist das so?

Durch Medien, Schulbücher, Lehrkräfte, Unterricht, Filme… Ich notiere z.B. meinem Publikum an der Tafel alle Strömungen des Judentums und zeige, dass das Judentum – so wie das Christentum – eine dynamische Religion ist, die sich immer weiterentwickelt. Wir haben gerade „Schawuot“, den Empfang der 10 Gebote, gefeiert. Unsere Aufgabe im Alltag ist – so wie wir die Rollen der Tora drehen – immer Neues und Flexibilität zu finden. Im orthodoxen Judentum ist es so, dass man die Heilige Schrift wortwörtlich versteht, wie es in der Tora steht. Alles andere ist als nicht gläubig eingestuft. Wir lesen die Tora mit einer historisch-kritischen Auslegung. Bei nicht-orthodoxen Strömungen werden zum Beispiel die Männer und Frauen als gleichberechtigt angesehen.

Als ich nach Deutschland kam, ging ich zur einzigen Synagoge, die ich damals kannte: in Hannover. Sie war orthodox. Ein Mann vor der Synagoge hat mich mit einem „Finger nach oben“ begrüßt.  Ich dachte zuerst, das wäre ein niedersächsischer Gruß und ich habe das Gleiche gezeigt. Das war aber kein Gruß, er hat mir gezeigt, dass ich „nach oben“ zur Frauenempore gehen sollte. Als ich das gemacht habe, wurde ich mit jeder Stufe, die ich nahm, wütender und wütender. Ich habe da unglückliche Frauen gesehen, die völlig ausgeschlossen waren, die – wie ich – die Tora nicht lesen und nicht aktiv an Gottesdiensten teilnehmen durften… Das war die Geburtsstunde des liberalen Judentums in Niedersachsen! Nach dieser Erfahrung entschied ich mich, mit anderen Frauen eine Gemeinde zu gründen.

Was bedeutet es, im 21. Jahrhundert in Deutschland jüdisch zu sein?

Meine Religion ist in meinem Alltag sehr präsent. Am Freitagabend zünden wir mit meiner Familie die Kerzen an, es gibt unbedingt „Challa“ und wir können einfach für uns selbst da sein. Dann geht es in die Synagoge zum Gottesdienst. Zu Corona-Zeiten trifft sich unsere Gemeinde regelmäßig auf Zoom für das Torastudium und für Gottesdienste. Das Problem ist jetzt, dass 90% unserer aktiven Mitglieder schon älter und nicht so vertraut mit dem Computer sind. Wir hoffen, die Corona Situation verbessert sich und wir uns im Juni wieder persönlich in der Synagoge treffen können.

Gibt es Feste, die Sie besonders mögen, ohne die Sie sich das Jahr nicht vorstellen können?

Ja, Schabbat!

(Lacht) Aber Schabbat ist doch jeden Freitagabend und Samstag!

Richtig, jede Woche ist schön! Wir können uns jede Woche erinnern, wer wir sind und wofür wir hier sind. Dieser Tag markiert das Ende und den Anfang. Eine Woche ohne Schabbat wäre unvorstellbar, da man keinen „Merktag“ hätte. Der Schabbat ist ein „Tempel aus Zeit“. Wir sind aber keine Sklaven der Religion, wir essen am Schabbat sogar Pizza! (lacht)

Erleben Sie im Alltag Antisemitismus? Werden Sie aufgrund ihres Glaubens angefeindet?

Manchmal treffe ich im Unterricht Schüler, die nicht so offen sind. Aber nach 90 Minuten, verlassen wir den Raum anders: besser und anders, weil wir viel voneinander gelernt haben. Die Synagoge in Hameln wurde am 17. Februar 2011, vor 10 Jahren, gebaut, und zwar genau an der Stelle, wo die Hamelner Synagoge von 1879 stand, die in der Pogromnacht, am 9. November 1938 von den Nazis niedergebrannt wurde. Ich denke, dass je offener, je präsenter wir sind, desto besser. Unsere Synagoge befindet sich in einer belebten Straße zwischen einem Gymnasium undeinerevangelisch-reformierten Kirche, auf dem Synagogenplatz. Offenheit und Präsenz: das ist unser Schutz vor antisemitischen Angriffen. Es ist mir aber bewusst, dass das nicht der Schlüssel für alle jüdische Gemeinden ist.

Der Anschlag auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019 hat vielen Menschen für die Gefahr des Antisemitismus die Augen geöffnet. Welche Folgen hatte der Anschlag für Ihre Gemeinde?

Ja, wir warten seit Halle darauf, dass Sicherheitsmaßnahmen umgesetzt werden: Seitens der niedersächsischen Landesregierung, haben wir noch nicht viel gesehen. Wir wollen uns nicht verbarrikadieren müssen. Unsere Synagoge hat Glastüren: Es ist einladend und gleichzeitig sehen wir auch, wer draußen steht. Es tut mir sehr leid, dass die Polizei während des Gottesdienstes vor der Tür stehen muss. So sollte es nicht sein.