Wir präsentieren Euch ein Interview mit Jürgen Gramenz, einem der Initiator des Projektes “Juden in Mecklenburg” (http://www.juden-in-mecklenburg.de/). Das Interview besteht aus drei Teilen. Heute veröffentlichen wir den ersten Teil.
Partnerschaft für Demokratie: Wie entstand die Idee, die Seite “Die Juden von Mecklenburg” ins Leben zu rufen?
Es begann mehr oder weniger 2011/2012 mit persönlichen Recherchen in Mecklenburg. Dabei hörten wir in den Landstädten in Mecklenburg nicht nur ein Mal: “Wir hatten hier keine Juden”. Uns war schnell klar, dass mit geringem Aufwand und für jeden, der Willens ist, festzustellen war und ist, dass in nahezu jeder Mecklenburger Stadt Menschen jüdischen und christlichen Glaubens unmittelbare Nachbarn waren und das seit etlichen Generationen. Der vielleicht wichtigste Anstoß kam allerdings durch eine Anfrage und einen Vor-Ort-Besuch in einem Mecklenburger Stadtarchiv, als uns die Herausgabe der so genannten “Judenakten” mit der Begründung verweigert wurde, es gäbe ja noch Nachkommen der Täterfamilien in der Stadt und man wolle keine Unruhe.
Wir bekamen dadurch das Gefühl, dass den Opfern damit ein zweites Mal Unrecht getan wurde,
indem man nur um des lieben Friedens Willen Schicksale zu verschweigen versuchte, also immer noch genau das tat, was schon unmittelbar nach Kriegsende und auch später fast überall sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland einsetzte. Und damit erwuchs der, nun ja irrwitzige, Plan, die Fakten zur jüdischen Bevölkerung für jede einzelne Stadt in Mecklenburg zu veröffentlichen.
Partnerschaft für Demokratie: Wer steht hinter der Initiative?
Wir sind zu zweit, haben aber einige stille Unterstützer bei unseren Recherchen und Nachforschungen. Allerdings sind wir weder Mecklenburger oder professionelle Historiker, sind nicht mit der Jüdischen Gemeinde verbunden, noch werden wir politisch oder finanziell in irgendeiner Weise unterstützt oder beeinflusst. Letzteres ist uns wichtig. Es ist also eine rein private Initiative.
Partnerschaft für Demokratie: Und was ist Ihr Ziel?
Da müssen wir etwas weiter ausholen. In erster Linie wollten und wollen wir, dass es einen Anlaufpunkt im Internet gibt, auf dem sich alle Interessierte über die jüdische Vergangenheit Mecklenburgs, soweit möglich in Gänze, verschaffen können. Was die Leser daraus machen, soll ihre ureigenste Sache sein. Daher war uns ganz besonders wichtig, nur nach Möglichkeit belegte Forschungsergebnisse darzustellen und dies ohne unsere eigene Meinung und den moralischen Zeigefinger, also nur die Fakten selbst sprechen zu lassen.
Diese Fakten sind – wie wir meinen – ziemlich eindeutig, was die ehemaligen Mecklenburger Juden als festen Teil der Mecklenburger Gesellschaft angeht.
Damit das überhaupt möglich war, mussten wir uns zwangsläufig sehr tief mit der Genealogie der Mecklenburger Juden beschäftigen und so haben wir über die Jahre hinweg vermutlich den vollständigsten Überblick über diese Familien in Datenform erfasst, unseren so genannten Stammbaum der Mecklenburger Juden. Ein Kern des Stammbaums war übrigens ein “Grundstock” von 4000 Personen, der vom berühmten letzten Landesrabbiner Dr. Siegfried Silberstein ursprünglich im Auftrag eines Mecklenburger Juden erstellt worden ist, der damit während des Nationalsozialismus den Behörden gegenüber verzweifelt beweisen wollte, dass seine Familie seit Jahrhunderten hier ansässig war. Erwartungsgemäß war es vergebens, aber seine Verwandten nahmen diesen Stammbaum mit auf die Flucht und so kam er über Großbritannien, die Ostküste der USA nach Hawai und landete schließlich 2011 bei uns. Man soll es nicht glauben, aber wir haben genau diesen ursprünglichen Stammbaum Silbersteins im Landeshauptarchiv Schwerin wiedergefunden. Mittlerweile enthält er natürlich vermutlich mehr Nicht-Mecklenburger als Mecklenburger.
Wir sind übrigens mehrfach kritisiert worden, warum wir denn die Daten des Stammbaums nicht publik machen.
Davon abgesehen, dass wir auf konkrete Nachfragen immer Auskunft daraus geben, hat das mehrere Gründe. An erster Stelle machte uns hier die DSGVO einen Strich durch die Rechnung: der Aufwand, das nun rechtskonform zu machen und dann veröffentlichen zu können, ist uns einfach zu groß. Wir reden hier von zehntausenden Personen, die teilweise anonymisiert werden müssten und alles wird davon nicht automatisiert geschehen können. Ein anderer Grund ist aber auch das Phänomen der “Zombiestammbäume”. Genealogen wissen ganz genau, wovon wir hier sprechen:
Sobald Stammbäume veröffentlicht sind, werden ungeprüft Verbindungen hergestellt, welche nicht immer stimmen und sich dann auch noch weiter verselbständigen. Wir haben das bei unseren Recherchen mehrfach gesehen und auch bei uns korrigieren müssen. Eines Tages werden wir diesen Datenschatz ohnehin gern dem Leo Baeck Institute übergeben.
Nur durch diese flächendeckende genealogische Erfassung war es uns möglich, viele Familien von ihrer Ansiedlung teilweise seit dem 17./18. Jahrhundert (übrigens war das bereits die zweite Ansiedlung von Juden in Mecklenburg) bis zur Schoah nachzuverfolgen, und letztlich ein Gesamtbild zu ermöglichen, wie denn vom gesellschaftlichen Aspekt her Mecklenburg ausgesehen hat. Dabei war es uns natürlich auch wichtig, ihre Schicksale während des Holocaust zu klären, jedoch wollen wir vorrangig zeigen, dass die jüdische Geschichte in Mecklenburg noch weit mehr ausmacht, dass auch die Mecklenburger Juden bedeutende Beiträge
in der Geschichte Mecklenburgs, bewusst oder unbewusst, erbracht haben. Hierbei sind wir selbstverständlich nicht allein, was Mecklenburg angeht. Es gibt viele Hobbyhistoriker in Mecklenburg, die einen wirklich großen und wichtigen Teil zum geschichtlichen Bild Mecklenburgs beitragen. Aus der Natur der Sache heraus sind diese aber nun mal keine Nachkommen der jüdischen Mecklenburger, weswegen sie damit auch nicht den Fokus ihrer Recherchen auf diesen geschichtlichen Teil Mecklenburgs legen. Diesem Aspekt wollten wir mit unserer Website Rechnung tragen und einen Beitrag dazu leisten. Indirekt war und ist uns aber auch wichtig, dass sich jeder selbst die Frage beantworten kann, ob die Aussage vieler nach dem Krieg, man habe ja davon nichts gewusst, wirklich stimmen kann. Wir haben uns diese Frage übrigens schon längst beantworten können.
Einige Ziele haben wir erreicht: Jeder kann sich über die damaligen jüdischen Einwohner in jeder einzelnen Mecklenburger Stadt informieren, soweit die- oder derjenige es möchte. Unsere Website-Statistiken zeigen, dass unsere Website tagtäglich für Recherchen genutzt wird und, und das freut uns ganz besonders,
vor allem auch aus Mecklenburg. Die Geschichte der Mecklenburger Juden ist damit aber bei Weitem nicht aufgearbeitet, es kann nur ein wirklich kleiner Beitrag dazu sein. Um das zu erreichen, müsste man systematisch alle Stadtarchive in Mecklenburg in dieser Hinsicht auswerten. Das wird, so lange die Dokumente in den Stadtarchiven nicht digitalisiert und damit leicht, kostengünstig und für jeden erreichbar sind, wohl ein Traum bleiben.
Wirklich bis ins Detail haben wir das bisher nur in Sternberg geschafft. Es hat uns gezeigt, dass man aus der Ferne mit Anfragen an die Archive ganz sicher kein wirkliches Bild bekommen kann und dass es leider selbst vor Ort nicht ausreicht, nur die dortigen “Judenakten” auszuwerten. Vor allem die polizeilichen Akten aus den 1930er und 40er Jahren müssten akribisch durchsucht werden, um die Vorgänge gegen die Juden vor Ort wirklich vollständig aufzuklären. Bei all den bisherigen wichtigen Bemühungen und neueren Publikationen ist man hier unserer Meinung nach immer noch auf halbem Wege. Der Umfang der Recherchen im Sternberger Archiv war enorm. Dort mussten wir aber auch feststellen, dass Akten und Dokumente ganz offensichtlich fehlen und
deren Verbleib auch nicht mehr endgültig aufzuklären ist. Es scheint so, als ob sowohl in der Zeit nach dem Kriegsende als auch ganz sicher zu DDR-Zeiten Akten staatlicherseits zumindest entnommen worden sind und nie in die Stadtarchive zurückkehrten. Damit wird man wohl mit geschichtlichen Lücken für immer leben müssen.