Heute präsentieren wir Euch das Interview mit Frau Dr. Karin Berkemann – Kustodin am Greifswalder Gustaf-Dalman-Institut. Wie jede Woche wünschen wir Euch viel Spaß bei der Lektüre!
Welche Aufgaben hat Gustaf-Dalman-Institut?
Bis heute folgt das Dalman-Institut den Zielen seines Gründers, des Theologen Gustaf Dalman (1855-1941). 1899 besuchte er zum ersten Mal das Heilige Land, die Region zwischen dem See Genezareth und dem Toten Meer. Schon 1902 wurde er zum Direktor des Deutschen Palästina-Instituts in Jerusalem berufen, das sich der Erforschung dieser Kulturlandschaft verschrieben hatte. Dalman sammelte alles, was Auskunft gab über das Alltagsleben der Hirt:innen und Bäuer:innen vor Ort. Damit hat er eine europaweit einmalige Sammlung zusammengetragen: von den Pflanzensamen bis zum Hochzeitsgewand, von der antiken Öllampe bis zu Drucken jüdischer Schriften aus dem 16. Jahrhundert. Mit den Umbrüchen des Ersten Weltkriegs kamen Dalman und Teile seiner Sammlung nach Greifswald, wo er an der Theologischen Fakultät 1920 das später nach ihm benannte Institut begründete. Seitdem ist sie hier eng eingebunden in die Ausbildung der Theologiestudierenden und steht Forscher:innen weltweit für ihre Recherchen offen.
Wie sieht ihr Arbeitsalltag aus?
Der ist, zum Glück, eine große Wundertüte: Gemeinsam mit studentischen Mitarbeiter:innen digitalisiere ich die Sammlung, um sie Forscher:innen und Interessierten weltweit online zugänglich machen zu können. So lerne ich seit acht Jahren automatisch Stück für Stück die ganze Sammlung kennen. Daraus ergeben die unterschiedlichsten Forschungsarbeiten, Publikationen und Ausstellungen zum Thema. Bei meinen Lehrveranstaltungen an der Theologischen Fakultät führe ich Studierende in die biblischen Lande ein. Hinzu kommen Führungen für Schüler:innen- und Reisegruppen, Lesungen bei der Greifswalder Kulturnacht. Aktuell restaurieren wir in einer Kooperation mit Studierenden der HTW Berlin 100-jährige Filmnegative von Dalman selbst. Oder ein Rentner aus Israel sucht ein historisches Foto von dem Hügel, auf dem später das Haus seiner Eltern stand – was er in Israel in keinem Archiv gefunden hat, hier in Greifswald konnten wir es greifen. Zwischen einem getrockneten Waran und 20.000 historischen Fotografien kommt bei mir nie Langeweile auf.
Zum Festjahr “1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland” entstand die Idee “Jüdische Artefakte des Monats” online zu präsentieren. Erzählen Sie etwas mehr über diese Idee. Was ist Ihr Lieblings Artefakt?
Jedes unserer Sammlungsstücke hat eine eigene Geschichte, die es zu erzählen lohnt und die zugleich einen besonderen Blick in die jüdische Kultur ermöglicht. Das Festjahr war ein schöner Anlass, zwölf dieser Geschichten digital weiterzugeben – und zwar in 90 Sekunden Lesezeit. Das passt gut zwischen zwei U-Bahnstationen oder zu einer Tasse Kaffee in der Frühstückspause. Ich mag gerne die Stücke, mit denen ich eine persönliche Erinnerung verbinden, so mit unserer “Optima 00126”: Glaubt man den Anekdoten älterer Kolleg:innen, haben sich daran filmreife Szenen abgespielt – wie in den besten Zeiten von Simone de Beauvoir, als die französische Philosophin ihre Texte zwischen halbleeren Kaffeetassen und einem überquellenden Aschenbecher in ihre mechanische Schreibmaschine tippte.
In Greifswald war die Optima an der Theologischen Fakultät über Jahrzehnte im Dauerbetrieb. Julia Männchen, die spätere Kustodin der Dalman-Sammlung, hat hier – rauchend und reichlich schwarzen Kaffee trinkend – ungezählte Texte für den Hebräisch-Unterricht oder zu ihren palästinakundlichen Forschungen in akkurate Form gebracht. Die mechanische Schreibmaschine verfügt über Tasten mit hebräischen Schriftzeichen, die sich austauschen lassen. In der Dalman-Sammlung ist ein kleiner Umschlag aus dem Jahr 1957 überliefert – mit losen hebräischen Tasten und UNION-Typen. Dieser Reservesatz wurde nie benötigt, denn das Original tat klaglos seinen Dienst, bis es wohl um 1990 erst durch eine elektronische Büromaschine und später durch einen Computer ersetzt wurde. Heute wird die alte Optima in der Sammlung als Erinnerung daran aufbewahrt, dass auch zu DDR-Zeiten die hebräische Sprache in Greifswald geschrieben und gepflegt wurde. Und nicht nur jungen Besucher:innen bereitet es Freude, hier ihren Namen in hebräischen Lettern zu tippen. Mehr von diesen Geschichten finden Sie jeden Monat neu bei uns online: www.uni-greifswald.de/dalman.
Wenn sich jemand auf die Spuren des jüdischen Lebens in Greifswald begeben möchte, was würden Sie der Person raten?
Dafür muss man in Greifswald ganz genau hinschauen. Starten Sie am Marktplatz, wo an der Rückseite der Hausnummer 13 (heute ist dort ein Brauhaus untergebracht) eine Gedenktafel an die Geschichte der jüdischen Gemeinde und das einige Jahre dort untergebrachte Bethaus erinnert. Folgen Sie dann den Stolpersteinen, die – über die Altstadt verteilt – an die Schicksale von jüdischen Greifswalder:innen erinnert. Eine Broschüre, die Sie zu den einzelnen Stationen führt, erhalten Sie u. a. bei “Partnerschaft für Demokratie” (oder online). Und am Ende kommen Sie vorbei am Rubenowplatz und lassen Sie sich von mir durch die Dalman-Sammlung führen – natürlich nach vorheriger Terminabsprache und wenn es die dann aktuellen Corona-Hygieneregelungen zulassen.
Was wünschen Sie sich vom Festjahr “1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland”?
Obwohl ich mit Themen der jüdischen Geschichte selbst schon einige Jahre unterwegs bin, habe ich in den vergangenen Monaten immer wieder Überraschendes, Schönes, Trauriges und Erhellendes über die jüdische Geschichte gelernt. Wenn wir diese Offenheit und den Blick für die Vielfalt mit in die kommenden Jahre herübernehmen könnten, wäre das schon viel. Und für das Dalman-Institut wünsche ich mir viele Besucher:innen für unsere kommende “Ausstellung to go”, die wir im September gemeinsam mit der Stadtbibliothek Greifswald eröffnen werden – dazu gehören dann auch virtuelle Angebote zur Kulturnacht und zum Tag des offenen Denkmals.