Und hier könnt ihr den letzten Teil des Interviews mit Landesrabbiner Yuriy Kadnykov lesen. Nächste Woche stellen wir Euch eine starke Frau aus Hameln vor!
Aleksandra Brandt: Wie wird man zum Rabbiner? Wie sah ihr Weg aus?
Man muss natürlich jüdisch sein. Und um Rabbiner zu werden muss man heutzutage ein Studium abschließen. Es gibt Studiengänge für liberale, konservative und orthodoxe Rabbiner. Bei einem liberalen Studiengang streben wir den zweiten Degree Magister an, bei einem orthodoxen Studiengang reicht ein Bachelorabschluss. Aber der akademische Grad ist nur eine Säule. Der zweite Teil betrifft die praktische Ausbildung in den Gemeinden: Man muss das jüdische Leben nicht nur theoretisch studieren, sondern auch in den Gemeinden mit- und ausleben. Man sagt häufig: „Man kann als Jude nicht allein leben“. Man braucht eine Gemeinschaft, weil die jüdische Weltanschauung auf die Gemeinschaft konzentriert ist. Im Studium beschäftigt man sich mit traditionellen Texten, aber „Rabbiner zu sein“ muss eine Herzensangelegenheit von der jeweiligen Person sein, weil wir vor allem mit den Menschen und nicht mit den heiligen Texten arbeiten. Wir müssen Menschen in ihren Lebenssituationen helfen.
Aleksandra Brandt: Wie sieht ein durchschnittlicher Tag im Leben eines Rabbiners aus? Man steht auf und…
…putzt die Zähne (lacht). Ja, auch die Rabbiner müssen die Zähne putzen (lacht)! Dann hat man Zeit für ein Gebet: Entweder gemeinsam oder allein. Nicht nur Rabbiner beten am Morgen, sondern jede Person, die das Judentum ernst meint und aktiv auslebt. Und wenn man in der Gemeinde ist, trifft man sich mit Menschen. Es gibt auch Bürotage, an denen man viel Papierkram erledigen muss. Für mich sind aber vor allem die Sprechstunden wichtig. Heutzutage haben wir Skype und andere Online-Konferenzen. Man muss nicht 100 Prozent vor Ort sein, obwohl ich das bevorzuge. Und dann können unterschiedliche Fragen kommen.
Aleksandra Brandt: Und gibt es noch Fragen, die Sie überraschen? Überrascht Sie noch etwas im Leben oder haben Sie schon alles Mögliche gehört?
Meine Lehrer haben mir beigebracht, dass man vor keiner Frage Angst haben muss: Es kann einfach immer eine neue kommen. Persönlich kann ich sagen: „Och ja, von dieser Person habe ich diese Frage nicht erwartet.“ Ich bin aber immer offen, die Menschen können einfach kommen und unterschiedliche Fragen stellen. Ich sage auch, dass ich nicht immer eine Antwort parat habe, weil ich kein Wikipedia, kein Duden oder kein Brockhaus oder auch kein Talmud bin (lacht). Aber ich kann mit diesen Medien gut umgehen. Und ich biete den Menschen an, dass wir zusammen nach Antworten suchen. Einige Probleme können wir ruhen lassen, weil sie keine Antworten haben. Man muss solche Dinge immer genau betrachten. Manchmal wird man mit einer Frage überrumpelt, die man nicht erwartet, weil man selbst mit dieser Situation noch nicht in Berührung kam und man braucht selber eine gewisse Zeit, um sich schlau zu machen: Und das ist ganz in Ordnung! Meine Lehrer haben immer gesagt: Man muss zugeben, wenn man etwas nicht weiß und gemeinsam nach Antworten suchen. Und jederzeit kann eine neue Frage kommen. Vor Corona hätten wir nicht gedacht, wie die Fragen in der jetzigen Zeit aussehen und jetzt müssen wir uns mit anderen Fragestellungen als vor zwei Jahren beschäftigen und nach passenden Antworten suchen.
Aleksandra Brandt: Ich sehe hier eine Gemeinsamkeit zwischen uns, weil mir immer auch gesagt wurde: Wenn du etwas nicht weißt, sag das bitte. Leider hat man häufig mit Menschen zu tun, die meinen, sie wissen alles. Wie gehen sie damit um?
Ja, schon König Salomon hat gesagt, wer das Wissen vermehrt, mehrt Trauer. Je größer unser Wissenshorizont ist, desto mehr verstehen wir unsere eigene Inkompetenz und realisieren, dass wir nicht alles, als Person oder Gemeinde, bewältigen können. Und wir müssen, wie die Ameisen, jeden Tag was bauen und so muss man auch mit Wissen umgehen. Viele Menschen, die Fragen überhaupt nicht stellen, haben diesen Horizont nicht. Sie denken, sie wissen innerhalb des eigenen Wissenshorizontes alles. Es gibt einen Spruch: „Ein einziges lernt man im Leben vollständig: das Alphabet!“ Und so kann man auch sagen: Das Alphabet habe ich gelernt aber alles andere ist offen. Im Judentum ist das wichtigste Gebot zu lernen. Lernen hört nie auf. Diejenigen die nichts fragen, lernen nichts. Und was mir am meisten weh tut: Wenn gar keine Fragen kommen. Das Wort Rabbiner kommt von „rav“, was „viel“/ „vielwissend“ heißt. Ich sehe häufig, dass wenn ich einen Vortrag halte, überschütte ich Menschen mit Wissen, weil sie einfach Zeit brauchen und ich immer diesen Drang habe: So viel wie möglich in kurzer Zeit zu vermitteln, weil ich merke, wie vergänglich unsere Tage sind. Dass wir so wenig Zeit haben… Dieses Gefühl habe ich immer… Wenn Menschen nicht fragen, macht mich das traurig, weil ich sehe, dass die Menschen in gewissen Blasen leben, und in diesen Blasen ist es ihnen ganz bequem, weil sie ihnen ein Sicherheitsgefühl geben. Gestern z.B. bin ich in der Stadt gelaufen und habe eine Situation beobachtet: Es gab eine Familie auf der Straße, eine Mutter mit einem leeren Kinderwagen, welche etwas weiter vorn lief und hinter ihr ist ein Kind zwischen 1,5 und zwei Jahren mit dem Vater gegangen. Und plötzlich ist neben dem Kind eine weitere Frau in die andere Richtung gelaufen, dann ich. Das Mädchen wollte zu seiner Mutter laufen, aber da war plötzlich ich. Das Kind war verunsichert, weil plötzlich die Mutter zwei Meter weiter war und ein fremder Mensch – ich – den Weg abschnitt. Ich denke, dass es uns heutzutage ähnlich wie diesem Kind geht: Wir sind alle verunsichert.
Wenn wir über Gefahren sprechen, können wir flüssig zum Thema Antisemitismus übergehen. Denken Sie, dass der Antisemitismus in Deutschland eher punktuell ist? Sind das vereinzelte Vorfälle oder eher eine konstante Entwicklung? Im Bericht des unabhängigen Expertenkreises zum Thema Antisemitismus aus dem Jahre 2017 habe ich gelesen, dass 77% der Deutschen den Antisemitismus nicht als Gefahr sehen. Was würden Sie dazu sagen?
Antisemitismus ist immer eine Gefahr. Als Außenseiter nimmt man ihn als weniger gefährlich wahr als diejenigen, welche gerade betroffen sind. Der Antisemitismus hat weniger mit Menschen des jüdischen Glaubens zu tun: Das ist ein Gesellschaftsphänomen, das tiefe Wurzeln hat. Das Wort Antisemitismus hat man angefangen, im 19. Jahrhundert zu benutzen. Man wollte diesen Begriff salonfähig machen. Früher hat man „Judenhass“ gesagt. Und ich würde lieber diesen Begriff verwenden, weil man in diesem Fall das richtige Gesicht sehen kann: Es geht einfach um den Hass. Man braucht dazu keine jüdische Gemeinde – es geht einfach um Fremdenfeindlichkeit. Die Ursache für den Antisemitismus ist eine Urangst der Menschen: Die Feindlichkeit gegenüber dem Fremden, die später kulturell anders „verpackt“ wurde. Schon in der Bibel finden wir Geschichten, in denen der Hass gegenüber den Juden thematisiert wird, weil sie gegenüber der allgemeinen, vorherrschenden Kultur die „Anderen“ waren oder besser: als andere wahrgenommen wurden. Und damit haben die Nazis bewusst gespielt, weil die deutschen Juden primär Deutsche waren; Juden waren sie an zweiter Stelle: Sie sind am Samstag in die Synagoge gegangen, statt am Sonntag in die Kirche: Das war der einzige Unterschied. Aber die Nazis haben dieses Schema „Anders sein“ mit Rassengesetzen begründet. Sie haben das missbraucht und die Menschen zum Hass angestiftet. Den Antisemitismus gibt es heutzutage in unterschiedlichen Farben, und er ändert sich: Zum Beispiel reden wir über linken und rechten Extremismus. Hier in Pommern haben wir damit ein Problem, dass sich die DDR als Staat stark gegen Israel positionierte, was nichts anderes als Antisemitismus in anderer Verpackung war. Das ist in den Menschen noch stark verwurzelt.
Man kritisiert doch manchmal die Politik Deutschlands oder der Türkei. Wenn man Israels Politik kritisiert, ist man dann schon ausländerfeindlich oder hat man eine Meinung zu einem bestimmten politischen Thema?
Das muss man unterscheiden. Kritisieren heißt argumentieren! Bestimmte Missstände kann man kritisieren. Wenn man z.B. Netanyahus Politik kritisiert oder die Tatsache, dass es ihm nicht gelungen ist, mehrmals die Mehrheit zu gewinnen – das ist kein Antisemitismus. Das ist die Kritik an der Politik im Land. Aber wenn man anfängt, Israel mit Apartheid zu vergleichen, ist das meiner Meinung nach purer Antisemitismus, weil das weit über die Tatsachen hinausschießt. Man kanalisiert häufig den Hass gegenüber dem jüdischen Staat oder vergleicht Israel mit Nazis, indem man alles auf den Kopf stellt und Israel in die Rolle eines Täters stellt!
Haben Sie Angst in Deutschland?
Nein, ich habe keine Angst. Die Gefahren sind da, aber wenn man Angst hat, dann ist das etwas, was jeder Angreifer erreichen will. Klar, besonders nach den Ereignissen in Halle muss man nun viele Sicherheitsmaßnahmen vornehmen und umsetzen, aber ich habe keine Angst.
Haben die Ereignisse in Halle die Gemeinde verändert?
Ja, einige Menschen wurden ängstlicher, weil – was wäre, wenn bei uns so etwas passiert. Wir haben uns damals unter anderem mit dem Innenminister unseres Bundeslandes, Herrn Lorenz Caffier, getroffen und wir haben Pläne bezüglich der Erhöhung der Sicherheit geschmiedet. Aber wir konnten einige Sachen nicht umsetzen, weil es einfach an Geld mangelt. Wenn die Landesregierung will, dass die jüdische Gemeinde sich sicher fühlt, muss die Regierung auch Möglichkeiten finanzieller Unterstützung anbieten: Wir fühlen uns einfach vernachlässigt.